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eine solche Funktion.
Natur als Widerstand und Gefahr
Natur ist nicht nur verklärte Idylle, Ort der Einheit, sondern auch Widerstand und Gefahr;
nicht nur Garten, sondern auch Dschungel, Wüste und Eis; nicht nur tragende Erde, sondern
verschlingendes Wasser. Die Natur mit ihren undurchschaubaren Gesetzen ist ebenso
ambivalent wie das menschliche Leben und eignet sich daher auch so gut zur symbolischen
Gestaltung. Von ihrer gefährlichen, zumindest schwankenden Seite lebt die Seefahrerliteratur.
Manchmal schafft sie nur den Rahmen, das isolierende und herausfordernde Milieu des
Schiffes, um eine handlungsbetonte Geschichte von Menschen und ihren Kämpfen zu
erzählen (Jack London: »Der Seewolf«), manchmal jedoch wird die Natur selber zum
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Antagonisten: so z. B. in Joseph Conrads »Taifun«, in Poes allesverschlingendem »Mal-
strom« oder durch Kapitän Ahabs Wal. Hundert Jahre später läßt Ernest Hemingway einen
alten Mann erneut gegen einen Fisch kämpfen. Ebenso unwirtlich wie das Meer sind Wüste
und ewiges Eis. Gerade in den letzten Jahren sind eine Reihe von Romanen erschienen, die
den Kampf gegen Kälte und Eis thematisieren: so z. B. Sten Nadolnys »Die Entdeckung der
Langsamkeit« und »Die Schrecken des Eises und der Finsternis« von Christoph Ransmayr.
Natur als aggressive Macht
Sind Wüste und Eis, Wasser und Dschungel als unwirtliche Orte des Durchquerens und
Überwindens hauptsächlich Weite und Widerstand, können Feuer und Überschwemmungen,
Stürme und Erdbeben zur aggressiven Mächten werden, die in ihrer Unabweisbarkeit direkt in
die Katastrophe führen. Zum Stoff für Geschichten werden sie nicht durch ihre todbringende
Botschaft, sondern als Bewährungsprobe, als Geburtsstunde des Helden. Der populäre
(Hollywood-)Film führt uns dieses Muster immer wieder vor Augen. Er weckt mit
»flammenden Infernos« unsere archaischen Ängste, beruhigt uns aber gleich wieder: »Wo
Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Schiffbruch und Insel
Die Schiffbruchs- und Inselgeschichten verweisen auf eine weitere Variante der menschlichen
Bewährung in der ambivalenten Natur. Verunglückt, gestrandet, aber noch mit dem Leben da-
vongekommen, ohne die Hilfe menschlicher Zivilisation, ist der Einzelne oder die kleine
Gruppe auf sich selbst angewiesen. In dieser Krise entscheidet sich, was der Mensch in natura
ist: Überlebenskünstler, Erfinder, Sozialwesen, Kannibale und enthemmtes Raubtier. Von
Homers »Odyssee« über Defoes »Robinson Crusoe« und J. G. Schnabels »Die Insel
Felsenburg« bis zu William Goldings »Herr der Fliegen« können wir, häufig sehr eindringlich
und wenig optimistisch stimmend, die literarischen Experimente in Exilierung und Isolation
nacherleben.
Orte der Isolation
Während Inseln immerhin noch der Rettung dienen und gelegentlich sogar an die befreiende
Natur Arkadiens erinnern, gibt es andere Orte der Abgeschlossenheit, in denen die Welt des
Leids allesbeherrschend wird. Aus der Insel wird die unterirdische Höhle (man denke an den
Überlebenskampf der beiden Jims in Max Frischs »Stiller«), das Zimmer (Jean-Paul Sartre:
»Die Eingeschlossenen von Altona«, Stephen Kings »Misery«), die »Strafkolonie« (Franz
Kafka), die besetzte Stadt (Andrej Szczypiorski: »Die schöne Frau Seidenman«), das Ghetto
(Jurek Becker: »Jakob der Lügner«), das KZ (Tadeusz Borowski: »Die steinerne Welt«) und
schließlich der »Archipel Gulag« (Alexander Solschenizyn). Entscheidend in diesen Modellen
ist die Ausgrenzung eines menschlichen Milieus, in dem die Gesetze des zivilisierten
Zusammenlebens nicht mehr gelten. Getestet wird, in einer Hochdruckkammer sozusagen,
was die Natur des Menschen ist oder, anders ausgedrückt, was der Mensch dem Menschen
antun kann.
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Die hermetische Welt des Wissens und Glaubens
Der Schauplatz der hermetischen Welt erstreckt sich noch weiter, bis hin zu Internaten
(Robert Musil: »Törleß«) und Klöstern (Umberto Eco: »Der Name der Rose«). Werden
Menschen zusammengepreßt und nach außen abgeschirmt, reagieren sie, so die Botschaft
dieser Romane, selten friedfertig. Auch in der Welt des Wissens und des Glaubens quälen und
zerstören sie sich gegenseitig. Offensichtlich sollen all diese ausgrenzenden und ein-
schließenden Orte das Verborgene im Menschen freilegen.
Beengte Reisen in die Weiten
Der menschlichen Phantasie genügt es nicht, die Weite der Meere oder (Eis-)Wüsten zu
durchqueren und zu bezwingen; es locken die Räume, die den Menschen normalerweise
ausschließen: die Tiefsee, die Stratosphäre, der Weltraum. Damit dies gelingt, braucht man
künstliche Fahrzeuge, die nach außen hermetisch abgeschlossen sind: U-Boote, Flugzeuge,
Raumschiffe. Wer sich über den menschlichen Lebensraum hinauswagt, setzt sich einer
doppelten Gefahr aus: dem Vakuum und dem Überdruck, dem Absturz und dem
Verschlungenwerden. Er erkundet aber auch in einem starken Schutzmantel das Niegesehene.
Appell also an unsere klaustro- und agoraphobische Lustangst. Schon Jules Verne ließ 1870
seine Nautilus »20 000 Meilen unter dem Meere« kreuzen und kompilierte in dem Buch viele
Erzählelemente (Südseereise, Kampf gegen Ungeheuer, Mythisierung der Natur wie der
Technik usw.), die zum eisernen Bestand des Abenteuerromans gehören. Er ließ auch schon
eine Mannschaft »Von der Erde zum Mond« und »Um den Mond herum« reisen und wurde
damit einer der Väter der modernen Science-fiction-Literatur. Diese Art von Raum-Literatur
greift viele der bereits genannten Elemente auf: die Suche nach dem Fremden, Faszination
und Fluch der Technik, Natur als Weite und Leere (der Weltraum), das U-Boot-Syndrom, der
finale Kampf zwischen Mensch und fremdem Wesen (aus dem Tier wird das
Außermenschliche), zwischen Mensch und Mensch (verantwortungsvolle Wissenschaftler
gegen Kriminelle und Größenwahnsinnige), der Kampf gegen Katastrophen.
Stadtdschungel und Labyrinth
Neben der gefährlichen Weite und der nicht minder gefährlichen Enge (beide sind, nicht zu
vergessen, ambivalent: Die Weite kann befreien, die Enge schützen) gibt es als drittes
Grundmodell das Labyrinth, das beide Gefahren vereint. In seiner Unüberschaubarkeit und
Unsicherheit appelliert es an unsere (kindlichen) Verlassenheits- und Verlorenheitsängste.
Eingeschlossen in eine Welt ohne die Möglichkeit der Übersicht, herumirrend auf Wegen
ohne Ziel, bedroht durch unbekannte, häufig unmenschliche Gefahren, sucht der Einzelne
nach einem Ausgang, der ihn befreit, oder er tappt dem Ungeheuren, dem Ungeheuer
entgegen, das ihn entweder verschlingt oder das er besiegen kann.
Das Modell des Labyrinths finden wir in unterschiedlichen Ausprägungen. Zum einen in
Orten, die uns das Fürchten und Gruseln lehren: alte Schlösser und verwinkelte Häuser mit
Kellergewölben, Geheimgängen und dunklen Verliesen, mit herumspukenden Gespenstern
und Toten. Eine alte, durchaus populäre Literaturgattung lebt von diesem Modell: der
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